Leseprobe 2

Kapitel 4

Am Nordpol ist es immer kalt

Schon mein Gefühl verrät mir, dass es nicht gut ist. Je öfter ich die Zeilen lese, desto weniger kann ich nachvollziehen, was ich damit bezwecken will. Überhaupt ist vieles unklar. Mehr noch als unklar. Richtig trüb ist es. So trüb etwa wie ein frisch eingelassener Gartenteich. Voller Schwebstoffe und Sediment, das nicht dort ist, wo es sein sollte. Am Boden nämlich. Vielmehr wirbelt es herum und findet keinen Halt. Mal oben, mal unten, dann wieder oben und dann irgendwo dazwischen. Wenn es nur endlich absinken könnte. Wenn ich nur endlich absinken könnte. Alles würde klar werden. Alles würde stimmen. Warum muss ich nur wie Sediment sein?

Aber noch habe ich mich nicht abgeschrieben. Noch habe ich das Gefühl, es wird etwas passieren, das all das hier erklären kann. Das eine Brücke schlagen wird zwischen mir, meiner Vergangenheit und meiner Zukunft. Nichts passiert. Trotzdem schreibe ich weiter. Ohne Konzept, ohne Ziel. »Wer braucht das schon?«, versuche ich mir einzureden und beneide insgeheim all jene, die einen Plan haben. Die eine Vergangenheit haben. Die keine Angst haben müssen vor dem, was war, weil sie es kennen, weil sie gelernt haben damit umzugehen. Die Angst dreht sich wie ein Karussell, immer schneller, die Kreise enger ziehend, bis alles schwarz wird und gepresst, viel zu dicht, ein Materieklumpen. Wie kann ich erfahren, wer ich bin? Wie soll ich, ohne meine Vergangenheit zu kennen, meine Zukunft in Angriff nehmen? Wird es mir wie dem Königssohn ergehen, unglücklich, suchend, zweifelnd für alle Zeit? Für einen Moment denke ich darüber nach. Ich komme zu keinem Ergebnis. Mir ist heiß. Ich schwitze. Bin müde. Rosenblüten regnen vom Himmel. Bin ich noch wach? Unwahrscheinlich. Ich höre Schritte. Es sind viele, die kommen, doch sie bewegen sich wie ein einziger Organismus. Die Gleichförmigkeit ihrer Bewegungen, ihr Rhythmus, ihre Stärke, sie löst Gänsehaut bei mir aus. Von Zeit zu Zeit stellen sich dem Organismus Hindernisse in den Weg. Sie werden zerschmettert. Sie verpuffen wie ein Tropfen Wasser auf einer rot glühenden Herdplatte. Es gibt kein Entrinnen. Plötzlich ändert der Organismus seinen Kurs und steuert geradewegs auf mich zu. Ich kann mich nicht bewegen. Es dauert nicht mehr lange und er wird hier sein. Wird mich verschlingen. Nur noch dreißig Meter, zwanzig Meter. Ich kann nicht weg. Zehn Meter, fünf Meter, ein Meter. Ein Knall. Der Organismus spaltet sich und bewegt sich links und rechts an mir vorbei. In jeder Pore spüre ich Macht. Sie steigt in mir hoch wie Magma im Schlot eines Vulkans. Ich kann und will mich nicht dagegen wehren. Vielmehr sauge ich sie auf, ohne Zögern, ohne Vorbehalt. In dem Augenblick, in dem sich der Organismus vor mir teilt, spüre ich es. Ich bin es. Ich bin sein Hirn. Die Schaltzentrale. Von mir hängt alles ab. Die Befehlsgewalt, sie liegt in meiner Hand. Ich wache auf. Dem Traum schenke ich keinerlei Bedeutung. Ich beschließe weiterzuschreiben. Ohne Plan. Des Schreibens wegen.

Versuch 5

Am Nordpol ist es immer kalt! Ein immens fein abgestimmtes Ökosystem, das durch die geringste Veränderung, die kleinste Verschiebung winzigster Parameter aus den Fugen geraten kann. Entgleisen, wie ein Zug, oder ein Mensch, der vom rechten Weg abkommt, dessen Verstand sich verabschiedet, der dem Wahnsinn entgegensteuert. Eisberge, Eisschollen, Eisbären, Gletscherzungen, Meeresströmungen. Alles miteinander verbunden, alles voneinander abhängig, alles im Begriff sich zu destabilisieren. Vielen ist die Labilität von solchen Systemen nicht bewusst. Dr. Erika Edelweiß zählt nicht zu ihnen. Sie ist Glaziologin und Klimaforscherin am Europäischen Institut für Eisschollendynamik, das weit im Norden liegt. So weit, dass der Schnee die Religion ist, die Kälte eine Verbündete und das Eis eine vertraute Konstante. Im Norden kündigen sich Veränderungen an. Seit Jahren schon dringen Stimmen durchs Eis, die auf einen Umbruch schließen lassen. Vielleicht sind sie schon seit Ewigkeiten da, die Stimmen, man kann es nicht sagen. Auf jeden Fall waren sie lange nicht zu hören, da das Eis einst mächtig war und dick wie ein Berg. Aber auch die Berge waren größer in jenen Tagen. Heute ist ein Berg oft so klein, dass ein im Tal angebrachtes Schild, welches Besuchern den Namen der Erhebung verrät, oft den ganzen Berg verdeckt und über dessen Gipfel hinausragt. So kommt es zu äußerst skurrilen Situationen, etwa wenn Bergsteiger darüber diskutieren, ob sie nun den Berg oder dessen Namensschild besteigen sollen. Größer wurden in all den Jahren nur die Menschen, die angesichts der schrumpfenden Natur fast schon riesenhaft erscheinen und die Erde aufheizen, mit ihren gewaltigen Körpern. Schon lange macht Frau Edelweiß auf die zu schnell voranschreitende Erderwärmung und das Abschmelzen der polaren Eisschilde aufmerksam und gilt als Koryphäe auf dem Gebiet der Paläoklimatologie, einer Wissenschaft, die sich mit den klimatischen Bedingungen der erdgeschichtlichen Vergangenheit auseinandersetzt. Ihre zahlreichen Publikationen in diversen wissenschaftlichen Zeitschriften haben in der Fachwelt schon des Öfteren für Furore gesorgt. Zu ihren bekannten, wenn auch umstrittenen, Klassikern zählen: »Treibhauseffektdie Kacke ist am Dampfen« oder »Schweinsbratenmentalität – die düstere Zukunft der Schweinswale.«

»Am Nordpol ist es immer kalt!«, das waren die letzten Worte von Dr. Erika Edelweiß. Die Umstände ihres Todes sind tragisch und mysteriös zugleich …